Geschichten | Autorentexte

«Und dann tanze ich durch Galaxien» - eine Zeitreise durch Utopien

Autor:in

Caroline Schöbi

Datum

15. Dezember 2022

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Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000

Sosehr Utopien auf etwas Zukünftiges verweisen, zeugen sie auch immer von Gegenwärtigem: von spezifischen historischen, geografischen und politischen Kontexten, die Menschen von einer anderen Welt träumen lassen und diese damit überhaupt erst denkbar machen.

In «Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000» (1976; im Bild) erzählt Alain Tanner sieben Jahre nach 1968 von einer Schweizer Linken, die zwischen Ernüchterung und Zuversicht schwankt. Für Tanner und andere junge Filmemacher:innen des Neuen Schweizer Films stellte Henry Brandt eine wichtige Bezugsgrösse dar. Nachdem dieser in den Fünfzigerjahren mehrere ethnografische Filme im Ausland gedreht hatte, realisierte er im Auftrag der Neuenburger pädagogischen Gesellschaft den Dokumentarfilm «Quand nous étions petits enfants» (1961), in dem Brandt eine Dorfschule im Neuenburger Jura ein Jahr lang begleitet. Die eigenständige ästhetische Form, der persönliche Off-Kommentar und die beobachtende Haltung des Films beeinflusste das künftige Schweizer Dokumentarfilmschaffen nachhaltig. In Brandts humanistischer Vision klingen die bildungspolitischen Umbrüche des kommenden Jahrzehnts an.

Selbstbestimmung als Utopie

Auf der Grundlage von Interviews und Archivaufnahmen erzählt Haupt in «Elisabeth Kübler-Ross» (2002) von den familiären und gesellschaftspolitischen Hintergründen, die den in den Fünfzigerjahren wenig konformen beruflichen Werdegang der Sterbeforscherin Kübler-Ross prägten. Vom Wunsch, ein selbstbestimmteres Leben zu führen, von struktureller Gewalt und Konfrontationen erzählt auch Léa Pool in «Emporte-moi» (1999), einem Film, der wie schon Pools frühere Arbeiten, um die Identitätssuche einer weiblichen Hauptfigur kreist. Ein von zeitgenössischen Feminismen beeinflusster Fokus auf die soziokulturelle Dimension von Geschlecht prägt Pools Blick zurück in die Sechzigerjahre Kanadas. Patriarchalen Strukturen und einer hegemonialen Männlichkeit begegnet die Filmemacherin mit einer sinnlich-poetischen Bilderwelt. Wenn zum Schluss des Filmes auch die Hauptfigur Hanna, von ihrer Lehrerin mit einer Filmkamera ausgestattet, erste eigene Bilder dreht, zeigt sich mit der Überzeugung, dass der Status Quo mit anderen Bewegtbildern zu verunsichern ist, ein utopisches Potenzial des Mediums selbst.

Rekonstruktion einer Utopie

Auch Richard Dindos «Dani, Michi, Renato und Max» (1987) kann als filmischer Versuch, einer dominanten Wahrheit entgegenzutreten, verstanden werden. Fünf Jahre nach dem Abriss des autonomen Jugendzentrums Zürich rekonstruiert der Film die Umstände, unter denen vier Mitglieder der Jugendbewegung durch Polizeieinsätze ums Leben kamen. Dindos Film ist eine detaillierte und überzeugende Beweisführung, die die Repression und Gewalt vonseiten der Polizei und Justiz offenlegt. Dass filmische Interventionen auch realpolitische Auswirkungen haben können, zeigt der Umstand, dass sich der damals amtierende Zürcher Stadtpräsident zu den erhobenen Vorwürfen äusserte.

Filme aus der Schweizer Filmgeschichte auf ihre Utopien, ihre vergangenen Zukünfte zu befragen, öffnet den Blick für eine Vielfalt von historisch spezifischen Formen und Ästhetiken des politischen Entwerfens. Dadurch wird Inspirierendes und Hoffnungsvolles, aber auch Problematisches sichtbar. Vor allem aber zeigt sich der Wert von Utopien als notwendiges Mittel im Kampf um eine andere Welt: als Momente, in denen trotz aller Widerstände und Widersprüche anderes denkbar und vorstellbar wird.

 

- Caroline Schöbi, Seminar für Filmwissenschaft, Universität Zürich

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